Bitte kein Mitleid!
"Oh Gott, der Arme! Das ist ja furchtbar! Hast Du den gesehen? Oh Gott,
oh Gott! Entsetzlich, und dann noch so klein!"
Solche Aussprüche hagelt es in Hülle und Fülle: im Einkaufzentrum,
beim Arzt, auf dem Spielplatz, im Café und auf der Straße.
Wem sie gelten? Einem entzückenden, blondgelockten, strahlend lachenden,
kleinen zweijährigen Jungen, der sehr aufrecht in seinem Kinderwagen sitzt
und manches Mal den Ausrufer mit seinem freundlichen "Hallo" oder
mit einem seiner berühmten Handküsschen völlig aus der Fassung
bringt.
Josia kam am 25.04.2003 in Erlangen auf die Welt, er war 41 cm lang und wog
stolze 2470 gr. Meine erste Frage nach der Kaiserschnittgeburt in Vollnarkose
war: Und, hat er doch Arme? Nein, Josia kam ohne Arme auf die Welt, wie schon
im Ultraschall einige Wochen vorher festgestellt wurde.
Er hat einen kleinen kurzen Armansatz und Hände, die etwas verbildet sind
und die keine echten Fingergelenke aufweisen. In seinen Beinen befindet sich
kein Kniegelenk. Sie sind steif, verkrümmt und das rechte Bein ist in einer
Art "Yoga-Position" fixiert. Eine echte Katastrophe!? Ja, medizinisch
gesehen ist das eine echte Katastrophe, ein Schicksalschlag, eine "Laune
der Natur".
Verantwortlich zu machen ist dafür keiner. Keine Tabletten, keine genetischen
Vorschäden der Eltern oder Großeltern, keine Komplikationen in der
Schwangerschaft. Menschlich und persönlich gesehen ist dieser Junge der
bezauberndste, unglaublichste, freundlichste und zäheste Junge, den wir
je erlebt haben. Mein Mann und ich haben uns schrecklich in ihn verliebt, was
die Trauer, den Schmerz und das Leid nicht ausschließt, ein nicht gesundes
Kind zu haben. Wir haben ein behindertes Kind!
Nicht nur ich muss mich damit immer wieder auseinandersetzen, sondern unser
gesamtes Umfeld. Da passieren eben solche Dinge, dass jemand Josia ins Gesicht
sieht und sagt : "Ist das aber ein Süßer!", dann aber die
fehlenden Arme bemerkt und ihm das Entsetzen deutlich ins Gesicht geschrieben
steht. Es gibt auch Menschen, die spontan zu weinen beginnen - aus Mitgefühl,
einfach, weil sie dieser Anblick berührt.
Mitgefühl ist etwas, was uns gut tut. Mithilfe, wenn wir mal wieder im
Krankenhaus sind und kein Land in Sicht ist, ist noch besser. Aber Mitleid brauchen
wir nicht. Sofern es kein Mit-uns-leiden beinhaltet.
Das mag für einige vielleicht sehr hart klingen, aber es soll einfach unsere
Haltung unserem Kind gegenüber deutlich machen: Josia ist kein "Armer".
Er wird von uns, seiner Großfamilie, von unseren Freunden und Arbeitskollegen
sehr geliebt. So viele Menschen drücken ihm aus, dass er ein wunderbarer
Mensch ist. Er wird in allen Dingen unterstützt und gefördert, von
all seinen Therapeuten perfekt betreut.
Trotz allem tut es uns natürlich weh, wie er da sitzt, momentan mit einem
riesigen Fixateur am Bein, eine Operation folgt der anderen, jeden Tag irgendwelche
Therapien. Und sicherlich kommen wir in regelmäßigen Abständen
an unsere Belastungs- und Schmerzgrenze und sind verzweifelt. Aber wir glauben
trotz allem fest daran, dass er und auch wir ein erfülltes, sinnvolles
Leben haben werden. Schon aufgrund der Anzahl von Menschen, verstreut in aller
Welt, die von seinem Schicksal gehört haben und für ihn beten.
Er ist kein bedauernswerter Mensch! Er wird immer ein Mensch sein, den man unterstützen
muss, aber wie er sich fühlt und wie er lebt, darüber entscheiden
ganz andere Faktoren.
Sehr dankbar sind wir auch für die professionelle Hilfe der Lebenshilfe.
Vielen Dank an Frau Wittmann-Sperber für ihre wunderbare Art, zuzuhören
und ehrliche, kompetente Ratschläge und Hilfestellungen zu geben.
Ganz besonders ein Dank an "unsere" Frau Hamper, die jeden Montag
zur Musiktherapie kommt. Danke für ihre Geduld und die vielen Ermutigungen.
Ermutigen möchte ich auch alle anderen Eltern mit behinderten Kindern,
das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ich bekomme diese neue Sicht
und Ausrichtung immer wieder durch meinen Glauben und meine Beziehung zu Jesus
Christus.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Gottes Segen
Ihre
Wiebke Topf
(aus dem JOURNAL der
Lebenshilfe
Erlangen, Ausgabe Dez. 2005)
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